Der Käse der Ostsee
Bis zum Alter von 15 Jahren kannte ich keinen anderen Schnittkäse außer Tilsiter. Noch heute sehe die Bilder meiner Kindheit, wenn ich den leicht säuerlichen Geruch eines jungen Tilsiter mit seinem Hauch von Molkeduft in der Nase habe. Der Käse kam von unserer Dorfmolkerei, geliefert vom pferdebespannten Milchwagen, wenn dieser mittags die leeren Milchkannen zurückbrachte, die er morgens mit der Milch unserer acht Kühe abgeholt hatte. Der Tilsiter war mit silbernem Papier umhüllt, darunter die klebrige, fast glitschige Rinde mit dem starken Geruch, der manche Leute dazu bringt, den Käse “Stinkekäse” zu nennen.
Als Kind habe ich mir nie Gedanken gemacht, wer unseren Tilsiter eigentlich herstellte, ob er bei uns im Dorf oder in einer anderen Molkerei produziert wurde. Nach meiner Erinnerung war der Käse immer gleich – jahrein, jahraus. Geliefert wurde er meist in 1-kg-Stücken, so daß immer Käse im Haus war. Meine Tante, die einige Jahre in der kleinen Molkerei gearbeitet hat, hat mir erst vor kurzem erzählt, daß der Käse tatsächlich in unserer Molkerei hergestellt wurde. Allerdings hat der Molkereimeister praktisch niemand in seinen Reifekeller gelassen, wahrscheinlich, weil er um seine sensiblen Käsekulturen fürchtete. Nur zufällig habe sie einmal einen Blick in den feuchten Kellerraum mit den vielen Regalen voller Käse werfen können. Deshalb weiß ich, daß der Tilsiter tatsächlich aus unserem Dorf stammte. Der Tilsiter ist der traditionelle Käse Norddeutschlands, genauer gesagt, der Käse des gesamten Raumes entlang der Ostseeküste von Rußland bis Südschweden. Eine polnische Freundin hat mir kürzlich erzählt, daß noch bis vor einigen Jahren für Sie die Worte Tilsiter und Schnittkäse Synonyme waren. Heute ist sicher Schleswig-Holstein, daß grüne Land zwischen Nord- und Ostsee, der Schwerpunkt der Tilsiter-Produktion. Erstmalig beschrieben wurde der Tilsiter 1840 von einer Frau Westphal, die auf einem Gut bei Tilsit im damaligen Ostpreußen lebte.
Das Rezept ist aber wahrscheinlich schon viel älter. Der Tilsiter ist ein geschütteter Schnittkäse, ein Käse, bei dem der Bruch in eine Form geschüttet und nicht gepreßt wird. Die Molke läuft unter dem Druck des Eigengewichtes der Käsemasse ab und hinterläßt ungleichmäßige, gerstenkornförmige Löcher. Nach dem Salzbad wird der mindestens 1,5 kg schwere Käselaib in der Regel mit “Rotschmiere” (bakterium linens) eingerieben, in feuchten Kellern gelagert und dabei regelmäßig gewendet und wieder mit Rotschmiere gebürstet. Der Käse wird überwiegend jung gegessen, oft schon nach vier bis sieben Wochen. Er eignet sich aber auch sehr gut für die längere Lagerung. Dann entwickelt er ein so kräftiges Aroma, wie es allerdings nur die wahren Liebhaber mögen. Schon kleine Krümel reichen dann aus, um den Mund zu füllen. Auf Gut Behl bei Plön kann man zur Zeit einen über zwei Jahre alten Tilsiter mit einer dunklen, trockenen Rinde kaufen. Er hat fast die Konsistenz eines Parmesan, ist sehr kräftig aber doch fein im Geschmack. Alte Tilsiter (7 Monate bis 1 Jahr) werden vor allem von der Meierei Ascheberg-Bordesholm und – als Küstentilsiter – von den Meiereien Sarzbüttel in Dithmarschen und Witzwort auf Eiderstedt hergestellt. Richtigerweise spricht man nicht nur vom Tilsiter, sondern von der Tilsiter-Familie, zu der in Deutschland u.a. noch der Wilstermarschkäse und der Steinbuscher gehören. Der Wilstermarschkäse ist nach einem fruchtbaren Landstrich an der Elbe bei Hamburg benannt, wo er zunächst produziert wurde.
Erstmals beschrieben wurde er 1821, auch von einer Frau. Dieser Käse wird üblicherweise jünger gegessen und in Folien und nicht mit Rotschmiere gereift, was ihn deutlich milder sein läßt. Man läßt die Milch länger dicken und erreicht so eine weichere Beschaffenheit des Käseteiges. Der Steinbuscher ist dagegen viel kleiner, oft auch fetter und mit Rotschmiere behandelt. Sein geringeres Volumen läßt ihn schneller reifen, so daß er schon nach kurzer Zeit sehr pikant ist. Tilsiter wird in Schleswig-Holstein von kleineren Genossenschaftsmolkereien hergestellt, grundsätzlich aus pasteurisierter Milch. Inzwischen gibt es aber auch einige Hofkäsereien, die aus der frisch gemolkenen Milch Rohmilch-Tilsiter produzieren, der dem Käse der Genossenschaften oft noch einige Geschmacksnuancen voraus hat. Die größte Hofkäserei hat Gut Behl bei Plön, die die Milch von 600 Kühen zu Rohmilchkäse verarbeitet.
Einen der feinsten Rohmilch-Tilsiter produziert Sönke Biss in der kleinen Hofkäserei Hofkamp in Dersau bei Plön aus der Milch der Kühe des väterlichen Hofes. Eine der ersten Adressen für Tilsiter in Deutschland ist die Firma Gut von Holstein GmbH in Bad Bramstedt. “Gut von Holstein” ist die gemeinsame Marketing- und Vertriebsgesellschaft von 11 selbständigen kleinen Molkereien in Schleswig-Holstein, meistens Genossenschaften. Die “Gut von Holstein”-Betriebe leisten sich den Luxus, 26 verschiedene Käse aus der Tilsiter-Familie zu produzieren. Darunter ist der sehr traditionelle und in Deutschland weithin bekannte Holtseer Tilsiter. Tilsiter ist nicht gleich Tilsiter. Darum die vielen Sorten. Und in jeder Molkerei ist er anderes und nicht verpflanzbar. Als vor einigen Jahren in Holtsee Kapazitätsengpässe waren, hat man versucht, nach Holtseer Rezeptur den Käse in einer anderen Molkerei produzieren zu lassen. Es ging nicht. Der Käse war deutlich anders, und darum gibt es auch weiterhin Holtseer Tilsiter nur aus Holtsee. Und dies ist wahrscheinlich der beste Schutz gegen das große Molkereisterben, das in Deutschland schon so viele kleine Molkereien hat untergehen lassen.
Es gibt keinen Grund zu Pessimismus. In den letzten Jahren sind viele neue Hofkäsereien entstanden, die an die große Tradition des Tilsiter anknüpfen und so intensiv an der Verfeinerung und innovativen Umsetzung arbeiten, daß man heute von einem “Käsewunder im Norden” sprechen kann. Um es anders zu sagen: Die Käser sind die Winzer des Nordens: Mit Herzblut dabei, gebunden an die Region, individualistisch, mit Engagement für den besonderen, den unverwechselbaren Geschmack, manchmal bis zur Besessenheit.
Text: Burchard Bösche