Autobiografische Notizen über Bratkartoffeln
In meiner Kindheit gab es, soweit ich zurückdenken kann, jeden Abend Bratkartoffeln – außer sonntags. Der Sonntag war was Besseres, also aßen wir Brot mit Butter, Wurst und Käse und tranken dazu Tee. Zu den Bratkartoffeln in der Woche gab es nichts zu trinken. Wer Durst hatte, löschte ihn außerhalb der Mahlzeiten mit Wasser aus der Leitung oder mit frischer Milch von den eigenen Kühen, die immer verfügbar war.
Montags bis sonnabends gab es Bratkartoffeln. Bratkartoffeln gab es nur zum Abendessen, mittags waren die Kartoffeln gekocht. Zum Mittag wurden immer soviel Kartoffeln gekocht, daß für die Bratkartoffeln am Abend noch genügend übrig waren; denn die Bratkartoffeln wurden aus gekochten Kartoffeln zubereitet, die mindestens einige Stunden gestanden haben sollten, nie aus grünen Kartoffeln. Die Bratkartoffelproduktion begann meine Mutter mit dem Schneiden des fetten Specks, in dem die Kartoffeln gebraten werden sollten. Für uns Kinder fiel dabei oft ein fingerdicker Streifen ab. Der Speck stammte von einem der zwei Schweine, die üblicherweise im Winter geschlachtet wurden. Geräuchert wurde der Speck mit Sägespänen in einer Räucherkammer oberhalb des Backofens im alten Backhaus, das neben den übrigen Hofgebäuden stand (und heute noch steht). Besondere Auswahl der Sägespäne wurde nicht getroffen. Geräuchert wurde also mit dem Holz, daß gerade auf der Brennholzsäge auf dem Hof gesägt worden war, in erster Linie von Eichen, Birken und Obstbäumen. Buchenholz, dessen Rauch als der beste galt, war selten verfügbar, da die Buchen bei uns eher selten waren. Sägespäne von Nadelholz wurden nicht verwandt. Geräuchert wurde mit einer Blechwanne, in die ein glühendes Brikett gelegt und mit Sägespäne abgedeckt wurde. Das Räuchern dauerte vier, fünf Wochen, dann wurden Schinken, Speck und Würste in Leinenbeutel gehängt, damit die Fliegen keine Eier darauf ablegen konnten. Die Räucherwaren blieben in der kalten Räucherkammer bis zum Verzehr hängen.
Dem Speckschneiden folgten die Zwiebeln und die Kartoffeln. Nachdem der Speck ausgelassen, die Zwiebeln glasiert und die Kartoffeln zugefügt und angebraten waren, wurde das mit Holz, Brikett und Koks genährte Herdfeuer abgedeckt und die Pfanne auf die Herdplatte gestellt, so daß die Kartoffeln langsam vor sich hin braten konnten. Dann begann meine Mutter, die Kühe zu melken. Es waren zwischen sieben und neun. Gemolken wurde von Hand, eine Melkmaschine wurde erst sehr spät genutzt. Nach jeder Kuh wendete meine Mutter die Bratkartoffeln und stellte sie schließlich zum Warmhalten an den Rand der Herdplatte. Vom Kuhstall in die Küche hatte sie es nicht weit. In dem Niedersachsenhaus führte die Küchentür direkt auf die Diele mit dem Lehmboden, an deren rechter Seite die Kühe standen. Die Milchkannen, in die die Milch durch einen großen Filtertrichter hinein gegossen wurde, standen in einem kleinen Durchgangsraum direkt neben der Küche. Die Katzen waren immer in der Nähe, weil sie etwas von der warmen Milch abbekamen. Manchmal fraßen sie den kompletten Wattefilter, mit dem die Milch gefiltert worden war. Der nachfolgende Verdauungsprozeß dauerte. Die große Pfanne mit den Bratkartoffeln kam mitten auf den Tisch. Wir bedienten uns reihum, beginnend mit meinem Vater. Zu den Bratkartoffeln gab es Gemüse oder Obst: Apfelmus, saure Gurken, süßsauer eingelegte Aziagurken, Rote Beete, eingekochte Birnen, süßsauer eingelegter Kürbis. Die Reihenfolge entspricht der Häufigkeit, an die ich mich erinnere. Fleisch oder Wurst gab es grundsätzlich nie dazu. Nur nach dem Schlachten konnte es vorkommen, daß zusätzlich gebratene Blutwurstscheiben oder auch mal eine Pfanne voll Knipp auf den Tisch kamen. Knipp ist eine helle Grützwurst ohne Blut, die in der Pfanne knusprig braun gebraten wird.
Nachdem mein Vater in die Hühnerhaltung eingestiegen war und deshalb häufig Knickeier anfielen, gab es zu den Bratkartoffeln für jeden ein Spiegelei – jeden Abend. Bratkartoffeln gab es immer gleich, sommers wie winters. Der zweite Gang des Abendessens variierte nach Jahreszeit. Im Winter gab es Milchsuppe, im Sommer kalte Milch. Die Milchsuppe folgte einem verläßlichen Programm: montags mit Haferflocken, dienstags Griessuppe, mittwochs mit Mehlklößchen, donnerstags mit Sternchennudeln, freitags Puddingsuppe. Sonnabends war es verschieden. Manchmal gab es ‘Stuten un Mölk’, wenn meine Mutter für den Sonntagskaffee Butterkuchen gebacken oder beim Bäckerwagen gekauft hatte. Dann wurden beim Butterkuchen die Randstücken abgeschnitten und nach den Bratkartoffeln zusammen mit heißer Milch gegessen. Haferflocken und Mehlklößchen waren mir ein Graus. Ich bekam dann Käse mit Milch aus dem Sommerprogramm. Im Sommer gab es nach den Bratkartoffeln meist ‘Kese un Mölk’. Der Käse war ein Quark, den meine Mutter aus einem Gemisch von Magermilch, Buttermilch und Vollmilch selbst bereitete. Der Topf mit dem Milchgemisch stand auf dem großen Heizungsherd neben dem Feuer, damit er nur lauwarm wurde. War die Milch geronnen, kam das Dicke in einen Durchschlag und blieb darin in der Speisekammer stehen, bis die Masse fest war. Nach den Bratkartoffeln nahm sich jeder einen oder zwei Löffel von dem Quark, zerdrückte ihn im Teller und goß frische Milch darüber. Dazu wurde ein Stück Schwarzbrot gegessen. Manchmal gab es statt des Quarks Rote Grütze in die Milch. Noch seltener wurde statt Käse und Milch Dickmilch gegessen, die mit zerbröseltem Schwarzbrot und Zucker überstreut wurde.
Diese Art des Abendessens blieb im Prinzip solange unverändert, wie auf dem Hof meiner Eltern Landwirtschaft betrieben wurde. Erst als es damit vorbei war und die Versorgung aus dem Supermarkt immer größere Bedeutung bekam, änderte es sich. Vom Abendessen her war nun immer Sonntag, weil es jetzt fast immer Brot mit Wurst und Käse gab und auch immer was zu trinken.
P.S. Zur Einordnung: Jahrgang 1946; aufgewachsen in der Nähe von Verden an der Aller (Niedersachsen).
Wie erwähnt gab es zu den Bratkartoffeln gelegentlich süß-sauer eingelegte Aziagurken. Da ich ein entsprechendes Rezept noch nirgendwo gedruckt gesehen habe, wird es hier abgedruckt:
Süß-sauer eingelegte Aziagurken
Reife Aziagurke schälen, aufschneiden, Kerne entfernen, in mundgerechte Stücke schneiden, in einem Topf mit Essig bedecken und einen Tag stehen lassen. Den Essig abschütten, Gurkenstücke mit Zucker bestreuen (auf 2 kg Gurken 1 kg Zucker). Keine weiteren Gewürze zufügen. Kein Wasser zufügen. 20-30 Minuten kochen, bis Gurkenstücke glasig sind. In Gläser füllen, Gläser verschließen. Gurken sind lange haltbar.